Berichte und Anträge
Regierungskanzlei (RK)
BuA - Nummer
2008 / 52
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Ein­lei­tung
I.Bericht der Regierung
1.Anlass
2.All­ge­meines
3.Beant­wor­tung der Fragen
II.Antrag der Regierung
 
Interpellationsbeantwortung der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein
betreffend  Einkommen, Existenzminimum und Armut
 
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Ausgangspunkt für die vorliegende Interpellation ist die "Analyse Sozialstaat Liechtenstein" aus dem Jahr 2005. In dieser Analyse wurde festgestellt, dass sich die Sozialausgaben zwischen 1995 und 2004 verdoppelt hatten, von 95 Millionen auf 189 Millionen Franken. Diese Entwicklung ist Anlass für Reformen, wobei ein Spannungsverhältnis zwischen notwendigen Leistungskürzungen einerseits und der Einführung neuer sozialer Leistungen bzw. der Erhöhung von bereits bestehenden Beiträgen besteht. Dies erfordert eine sorgfältige Abwägung insbesondere im Hinblick auf die mitunter weit reichenden Auswirkungen der unterschiedlichen Anreize.
Um dieser komplexen und interdisziplinären Aufgabe gerecht zu werden, ist die Zusammenarbeit mehrer Ressorts und Amtsstellen nötig, wobei die Federführung beim Ressort Soziales liegt. Durch das Zusammenwirken der betroffenen Stellen soll gewährleistet werden, dass ein sozialstaatliches, langfristiges und eigenständiges Konzept entsteht. Es soll, wie in der Interpellation gefordert, einen konsensorientierten Prozess durchlaufen, so dass ein langfristiges und eigenständiges Konzept resultiert.
Die Interpellanten stellen einen Ausbau des Sozialwesens in letzten Jahren mit den damit verbundenen Kostenerhöhungen fest. Diese Kosten einzubremsen sei wichtig, jedoch seien auch neue Leistungen (z.B. für Familien) zu prüfen. Zentral seien positive Arbeitsanreize (z.B. Finanzierung der Kinderbetreuung). Einerseits gebe es einkommensabhängige Leistungen (Mietbeihilfe, Ergänzungsleistungen), andererseits einkommensunabhängige Leistungen (Kindergeld, KK-Prämien).
Ein Problem sehen die Interpellanten in möglicher Kinderarmut und Nichtinanspruchnahme von Leistungen, wobei die Interpellanten gezielte Leistungen vorschlagen.
Ziel der Interpellation ist es, Informationen zu Einkommen, Existenzminimum und Armut zu erhalten zwecks der Klärung, welche Personen zielgerichtet welche Leistungen erhalten sollen.
Zudem fragen die Interpellanten, welches sozialstaatliche Konzept die Regierung verfolgt und ob ein Grundeinkommen eine Lösung für soziale Unterstützung wäre.
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Zusammenfassend kann aus den getroffenen Abklärungen der Schluss gezogen werden, dass ein garantiertes Mindesteinkommen wohl auf den ersten Blick in seiner theoretischer Konzeption besticht, jedoch bei näherer Betrachtung mit erheblichen Mängeln behaftet ist und zudem in keinem anderen Land bisher umgesetzt wurde. Für die Regierung ist die staatlich organisierte Grundsicherung Grundlage ihrer Sozialpolitik.
Die Regierung verfolgt keine radikale Veränderung des Systems der sozialen Sicherheit sondern eine bedarfsgerechte, finanzierbare Reform der sozialen Sicherung. Das Sozialwesen soll effizient, gerecht und mit tragbaren Soziallasten verbunden sein.
In diese Richtung zielt auch die von der Regierung angestrebte allgemeine Harmonisierung des allgemeinen Teils des Sozialversicherungsgesetzes (AHV/IV, ALV; KK, UVG etc.).
Zuständige Ressorts
Ressort Soziales (federführend)
Ressort Justiz
Ressort Gesundheit
Ressort Finanzen
Ressort Wirtschaft
Ressort Familie und Chancengleichheit
Betroffene Amtsstellen
Amt für Soziale Dienste (ASD)
Amt für Gesundheit (AG)
Amt für Wohnungswesen (AWW)
Steuerverwaltung (STV)
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Vaduz, 29. April 2008
RA 2008/1264-6000
P
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
Sehr geehrte Frauen und Herren Abgeordnete
Die Regierung gestattet sich, dem Hohen Landtag nachstehende Interpellationsbeantwortung zu unterbreiten.
1.Anlass
Die Interpellation betreffend Einkommen, Existenzminimum und Armut wurde am 26. August 2007 von den Abgeordneten Andrea Matt, Pepo Frick und Paul Vogt eingereicht.
Begründung der Interpellation
Das Sozialwesen in Liechtenstein wurde über die letzten Jahrzehnte kontinuierlich ausgebaut. Dabei wurden die Grundkonzepte den schweizerischen Modellen nachempfunden. Auf Grund einer eigenständigen liechtensteinischen Gesetzgebung bestehen - im Vergleich zur Schweiz - ein besserer Versicherungsschutz und eine weiter reichende soziale Absicherung. Dieser Ausbau des Sozialwesens führte jedoch auch zu einer starken Zunahme der Ausgaben des Staates. Betrugen die Staatsbeiträge für die soziale Sicherheit 1995
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noch 95 Millionen Franken, so waren sie im Jahr 2004 mit 189 Millionen Franken schon doppelt so hoch (Analyse Sozialstaat Liechtenstein, 2005).
Aufgrund der wachsenden Ausgaben besteht eine Forderung nach Reformen, mit denen staatliche Leistungskürzungen verbunden sind, z.B. Reduktionen bei der Prämienverbilligung oder Erschwerung der Möglichkeiten der Frühpensionierung. Die Analyse Sozialstaat Liechtenstein spricht von der "Aufgabe der Politik, das Reformpaket zusammenzustellen, die Massnahmen zu gewichten und auf der Zeitachse zu skalieren". Andererseits bestehen zu Recht Bestrebungen, neue soziale Leistungen, z.B. eine speziell Familien unterstützende Förderung, einzuführen und bestehende Leistungen zu erhöhen, z.B. den Kinderfreibetrag.
Jede Veränderung der sozialen Leistungen hat jedoch weit reichende Konsequenzen. Abhängig von der Ausgestaltung können sie beispielsweise negative oder positive Arbeitsanreize setzen. So stellen geringe Kinderbetreuungskosten einen positiven Arbeitsanreiz dar, während hohe Kinderbetreuungskosten eine Arbeitsaufnahme behindern. Während niedrige Rentenkürzungssätze den frühen Rentenvorbezug begünstigen, ist dies bei hohen Kürzungssätzen nicht der Fall.
Bestehende Sozialleistungen erfolgen teilweise einkommensunabhängig im Giesskannenprinzip. Beispielsweise ist die Auszahlung des Kindergeldes nicht vom Einkommen der Eltern abhängig. Auch die Krankenkassenprämien werden durch den hohen Staatsbeitrag für alle gleichermassen reduziert - unabhängig vom Einkommen. Sinnvoller als allgemeine Ausschüttungen im Giesskannenprinzip sind jedoch gezielte Leistungen. Mit ihnen können bedürftige Personengruppen effizienter unterstützt werden. Aktuell sind jedoch nur wenige Leistungen wie z.B. Wohnbeihilfe, Stipendien und Prämienvergünstigungen vom Einkommen abhängig. Bei Reformen und bei neuen sozialen Leistungen stellt sich nun die Frage, welche Personengruppen in welcher Form den Anspruch auf die
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Leistungen erhalten sollen. Wenn Leistungen einkommensabhängig und damit auch gezielter gestaltet werden sollen, so müssen die Höhen der Einkommensgrenzen festgelegt werden. Mit der Interpellation sollen Informationen zu Einkommen, Existenzminima und Armut in Erfahrung gebracht werden.
Mit einem Überblick über die bestehende Situation können die gegebenenfalls notwendigen Entscheidungen bei der Ausgestaltung neuer Leistungen oder bei der Anpassung bestehender Leistungen auf Fakten abgestützt werden.
In der Interpellationsbeantwortung zu Familien und Beruf (Nr. 113/2006) wurden auf Seite 23 die Erwerbseinkommen von Haushalten mit Doppelverdienenden in einer Tabelle dargestellt. Rechnet man die Zahlen auf jeweils einen Haushalt um, so kommt man auf ein durchschnittliches Erwerbseinkommen von Paarhaushalten ohne Kinder in der Höhe von 141'000 Franken, bei Paarhaushalten mit einem Kind von 129'000 Franken und bei Paarhaushalten mit mehr als zwei Kindern auf durchschnittlich 137'000 Franken. Die Beantwortung einer kleinen Anfrage im Juni 07 ergab, dass mehr als die Hälfte aller verheirateten Familien mit Kindern unter 18 Jahren einen Erwerb über 100'000 Franken ausweisen und dass das durchschnittliche Einkommen von Alleinerziehenden 62'743 Franken beträgt. Die Zahlen überraschten und zeigten damit aber auch auf, dass Informationen zum Einkommen verschiedener Haushaltstypen notwendig sind. Sie stellen wichtige Entscheidungsgrundlagen bei bevorstehenden Reformen dar.
Viele Haushalte in Liechtenstein sind auf einkommensabhängige Leistungen angewiesen, da das Einkommen alleine nicht mehr zur Finanzierung des täglichen Lebens reicht. Die zu dieser Thematik gestellten Fragen sollen aufzeigen, wie viele Menschen auf diese Weise aktuell unterstützt werden und welchen Personengruppen sie angehören.
Einen speziellen Bereich stellt die Kinderarmut dar. Eine UNICEF-Studie vom März 2005 stellt fest, dass der Anteil der Kinder, die in relativer Armut leben, in
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den meisten reichen Nationen wächst. Als relativ arm werden dabei Haushalte mit einem Einkommen, das niedriger als die Hälfte des nationalen Durchschnittseinkommens ist, angesehen (Armutsdefinition der Europäischen Union). Während in Dänemark nur 2,4 Prozent der Kinder in relativer Armut leben, sind es in der Schweiz schon 6,8 Prozent der Kinder und in Deutschland und Österreich bereits 10,2 Prozent der Kinder. Kindern, die in Armut leben, ist mit höheren Geldleistungen allein nicht geholfen. Sie benötigen ergänzend Sach- bzw. Dienstleistungen, etwa Schulessen, Kinderbetreuung oder Hausaufgabenbetreuung, damit ihre Ausbildungschancen gewahrt bleiben und sie als Erwachsene Arbeit finden. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zum Ergebnis, dass mehr Erwerbstätigkeit Kinder vor Armut schützt: "Die Erwerbstätigkeit der Mütter ist die beste Option zur Armutsprävention von Kindern". Bedürftige nehmen ihnen prinzipiell zustehende Leistungen häufig nicht in Anspruch. Diese Problematik der verdeckten Armut wurde in verschiedenen Studien untersucht. Immer wieder wird festgestellt, dass sehr viele Bedürftige Leistungen nicht beantragen. Eine aktuelle Analyse aus Deutschland (Verdeckte Armut in Deutschland, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2007) geht davon aus, dass es etwa doppelt so viele Anspruchsberechtigte wie Empfänger gibt. Sie stellt fest, dass "insbesondere allein stehende Frauen, Paarhaushalte mit erwerbstätigem Haushaltvorstand sowie Altenhaushalte ihnen zustehende Hilfe nicht in Anspruch nehmen. Auf der anderen Seite ergibt sich für Alleinerziehende eine unterdurchschnittliche Quote der Nicht-Inanspruchnahme". Vorwiegender Grund für die Nicht-Inanspruchnahme sind Stigmatisierungsängste. 83 % der in verdeckter Armut lebenden Menschen stimmen der Aussage "Sozialhilfebezieher werden in der Gesellschaft nicht voll akzeptiert" zu. Diese Nicht-Akzeptanz sozialer Leistungen durch Anspruchsberechtigte führt zu der Frage, ob nicht vielleicht doch ein bedingungsloses Grundeinkommen - z.B. in der Form einer negativen Einkommenssteuer - eine gerechte Lösung für soziale Unterstützung darstellen könnte. Eine neue, aktuelle in Deutschland diskutierte Idee ist ein
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partizipatives Grundeinkommen, bei dem eine ehrenamtliche Gegenleistung "gefordert" wird, z.B. Kinderbetreuung, ehrenamtliche Tätigkeit etc.
Die einzelnen sozialen Leistungen beeinflussen sich gegenseitig und können nicht nur isoliert für sich betrachtet werden. Dies hält auch die Analyse Sozialstaat Liechtenstein fest: "Eine Gesamtbetrachtung der verschiedenen Sozialsysteme ist deshalb dringend erforderlich, wobei insbesondere die Mechanismen des Zusammenspiels zu analysieren und in der Folge zu harmonisieren sind." Dies ist bis heute nicht erfolgt.
Die anstehenden Veränderungen im Sozialstaat Liechtenstein bedürfen eines sozialstaatlichen Konzeptes. In diesem ist auch die Frage zu klären, ob Hilfe und Unterstützung weiterhin vor allem in Geldleistungen bestehen sollen. Während bei reinen Geldleistungen die Gefahr besteht, dass eine Arbeitsaufnahme behindert wird, unterstützen bezahlbare oder sogar kostenlose Sach- und Dienstleistungen wie z.B. eine Kinderbetreuung die Eigeninitiative wirkungsvoll. Es ist deshalb zu prüfen, ob nicht vermehrt Dienstleistungen, die dafür sorgen, dass Menschen ohne spezielle soziale Unterstützung leben können, anzubieten sind. Das bestehende Konzept der Ausrichtung des Sozialwesens an der Schweiz sollte kritisch hinterfragt und mit den verschiedenen Konzepten Europas, vor allem mit denen der nordischen Staaten, verglichen werden. Liechtenstein benötigt ein in einem konsensorientierten Prozess entwickeltes, langfristiges und eigenständiges Konzept für seinen Sozialstaat.
Stichwörter
Ana­lyse Sozi­al­staat Liechtenstein 2005
Armut
Ein­kommen
Exis­tenz­mi­nimum
Finan­zie­rung, Sozialstaat
Grund­ein­kommen
Inter­pel­la­ti­ons­be­ant­wor­tung
Kosten, Sozialstaat
Sozi­al­po­litik
Sozi­al­staat, Kosten